Riemenschneider (Piper Verlag) - Fänger des Zeitenlauts

...... Schon der erste Satz weist den Weg nicht nur durch Geschichte auf den folgenden 630 Seiten, sondern durch eine ganze Epoche: „Wind kam auf“ – und dieser Wind entwickelt sich an der Wende von 15. zum 16. Jahrhundert genau so zu einem Gesellschaft und Kultur umwälzenden Sturm wie er in diesem Geschichts-Roman zu einer brausenden Erzählung anschwillt: Tilman Röhrigs „Riemenschneider“, der in diesen Tagen in den Buchhandel kommt, ist wahrlich eines der wenigen Epen unter den zahlreichen zeitgenössischen historischen Romanen. Das Thema lässt ahnen: „Riemenschneider“ ist keine Bettlektüre und schon gar kein Roman, der der reinen Erbauung dient. „Riemenschneider“ ist nicht nur von großer Sprachgewalt – er ist auch bis zur Brutalität direkt, vor allem, wenn bis ins Akribische Verhörmethoden und das Antun seelischer Gewalt dargestellt wird. Sehr deutlich aber sagt der Autor auch, dass es ihm hier nicht um die Sensation als solcher, sondern um die Darstellung eines Alltags geht, den wir in Geschichts-Klischees gerne als eine mystisch - verwobene Zeit empfinden.
Soweit es der Vergleich mit der Geschichtsschreibung zulässt, ist „Riemenschneider“ ein sorgfältig recherchiertes Werk: Daten und Fakten sind nachprüfbar, Geistes Kind des Autoren sind zweifellos die Charaktere. Röhrig tut hier gut daran, auf Idyllisierungen zu verzichten. Tilman Riemenschneider, aber auch Zeiggenossen wie der Bauernführer Götz von Berlichingen, werden als Menschen mit Widersprüchen in Denken und Handeln vorgestellt. Dass sie gerade damit die Zukunft einer Kultur prägen, ist ihnen nicht bewusst – und indem sie Röhrig nicht zu übermenschlichen Helden stilisiert, tut er der Geschichte einen großen Gefallen, denn damit verdichtet er die Atmosphäre seiner Geschichte, gibt ihr Leb- und Leibhaftigkeit. Und schafft ein großes Werk. ......