Der angebundene Traum

An einem sonnenklaren Herbstmorgen trug die Lerche ihr Lied in stetig steigenden Kreisen dem Himmel entgegen. Für einen Moment verharrte sie an ihrem höchsten Punkt, um sich dann zur Erde hinunterzustürzen. Hungrig schnappte sie im Fall nach Insekten und ruhte sich Augenblicke später auf dem abgemähten Kornfeld aus.
Zwei Jungen kamen johlend über die Stoppeln gelaufen. An noch knappen Leinen zogen sie große Drachen hinter sich her. Der eine Windvogel war gekauft. Auf seine durchsichtige Bespannung war ein scharfschnäbliger Habicht gedruckt. Die zum Angriff gespreizten Krallen schienen nach der langen Kette aus schmetterlingsähnlichen Papierschleifen zu greifen. Der andere Windvogel war aus leuchtendbuntem Drachenpapier und Holzleisten selbst gebastelt. An seinen langen Schweif waren kleine Grasbüschel gebunden.
Die beiden Vögel stiegen ein Stück und fielen gleich wieder auf das abgemähte Kornfeld zurück. Lachend hoben die Jungen sie auf, rannten - und endlich erfaßte der Aufwind die Drachen. Immer schneller trieb er sie hinauf in die herbstliche Luft. Atemlos blieben die beiden Jungen auf dem Stoppelfeld stehen und wickelten langsam die Leinen ab.

Die Lerche flatterte neugierig auf und stieg den Windvögeln nach. Sie trug ihren Jubel in den durchsichtigen Herbsttag, und bald hatte sie die beiden eingeholt.
Der heftige Streit übertönte das Lied der Lerche. Empört verteidigte sich der Drache mit den Grasbüscheln: " Du bist eingebildet! Ich steige genau so hoch wie du!"
"Das werden wir ja sehen!" rief der Gekaufte. "Meine Bespannung ist aus bestem Kunststoff. Mein Habicht ist gefährlich - vor allem aber ist meine Leine länger. Ich werde gewinnen!"
In einem weiten Bogen umkreiste die Lerche die zankenden Drachen, schraubte sich höher und blieb ein Stück über ihnen. Der Überhebliche starrte mit dem Habichtauge zu ihr hinauf.
"Was soll das? Hast du denn keine Leine, an der du festgehalten wirst?" fragte er. Die Lerche trällerte vergnügt: "Nein. Ich brauche keine Leine. Ich bin eine Lerche, bin frei und fliege, wohin ich will."
"Das glaub` ich nicht", antwortete mißtrauisch der gekaufte Drachen. "Hast du denn keine Angst, daß der Wind dich forttreibt?"
"Aber nein! Der Wind ist mein Freund!" jubilierte die Lerche. "Wir spielen miteinander, bis ich müde bin. Dann lasse ich mich zu Stoppelfeld hinunterfallen und ruhe mich in meinem Nest aus. Ich liebe die Sonne - und auch den Wind."
Der Habichtdrachen schwieg - und der Drachen aus buntem Papier hatte stumm zugehört. Plötzlich zerrte er an seinem Seil, tauchte in einen Luftwirbel und stemmte sich wieder gegen die Kordel. Auf einmal wollte er mehr, als einem Papiervogel möglich war. Immer heftiger wurde in ihm der Wunsch, einmal so frei zu sein, ein einziges Mal so frei fliegen zu können wie die Lerche. "Es muß herrlich sein, so hoch, wie ich möchte, dem Himmel entgegenzusteigen!"
Den gekauften Drachen hatten die jubelnden Worte der Lerche aus seiner Selbstzufriedenheit gerissen. Zornig schrie er: "Dummes Lerchengeschwätz!" Er lachte verächtlich zu ihr hinauf. "Du führst ein armseliges Leben. Du bist so winzig klein - viel zu klein! So unscheinbar! Du lebst nur im Regen und auf klebrigem Ackerboden. Also ich möchte nie mit dir tauschen!" Die bebende Wut in der Stimme des Drachens erschreckte die Lerche. Sie wollte ihn beschwichtigen und sagte freundlich: "Aber wir können doch gar nicht miteinander tauschen. Du bist glücklich an deiner Leine - und ich bin glücklich in meiner Freiheit."
Doch der Drachen mit dem aufgedruckten Raubvogel schimpfte weiter: "Niemals möchte ich eine Lerche sein! Schaut mich doch an! Mein Habicht hat seine Schwingen weit gespannt. Die Papierschleifen an meinem Schwanz sehen aus wie angebundene Schmetterlinge. Meine Kordel hält mich und gibt mir Sicherheit. Ja, ich hasse Vögel, die einfach so herumfliegen. Eine schwarze Katze sollte dich fressen und dein Nest zerstören!"
Das kleine Herz der Lerche verkrampfte sich. Sie hatte doch nur voller Überschwang von ihrem Glück erzählt. Sie wollte die beiden Windvögel mit ihrer Lerchenfreiheit nicht beunruhigen oder verletzen. Schnell stieg sie weiter dem blauen Himmel entgegen.
Hier oben war es schön wie nirgendwo in der Welt. Hier löste die grenzenlose Weite alle Angst und Sorge einfach auf, und zurück blieb ein Lied voller Dankbarkeit und Seligkeit.
Tief unter der Lerche standen die beiden Windvögel, gehalten von langen Leinen.
Der Drachen aus buntem Papier schaute sehnsüchtig hinauf. Er hörte den hellen Jubel der Lerche. Plötzlich ohne weiter zu denken, gab er sich einen starken Ruck, riß sich los und stieg erst langsam und unsicher, dann rascher zur Lerche in den Himmel hinein.
Er war frei - so frei wie die Lerche. Ein nie geahntes Zittern schüttelte ihn. Sein Schweif aus Grasbüscheln schlug Schlangen in den Aufwind. Er rief, und seine Stimme überschlug sich: "Lerche, schau zu mir! Ich bin losgelöst. Nun kann ich fliegen, wohin ich möchte!"
Die Lerche sah entsetzt den taumelnden Flug des Drachens. Voller Angst flog sie zu ihm und warnte immer wieder: "Gib acht! Gib zur acht! Du kannst deine Flügel nicht bewegen. Halte dich so, daß der Wind dir unter die aufgespannten Arme weht - sonst stürzt du ab!"
Der Drachen war entschlossen und furchtlos. "Ich weiß. Mein Flug dauert nicht lange. Doch für einen Moment bin ich frei!" Heftig schlug das Herz der Lerche und erstickte ihr Lied. Besorgt blieb sie bei dem glücklichen Windvogel.
Der Habichtdrachen sah nur, wie sein Rivale höher und höher stieg. Voller Neid riß er sich los und ließ sich vom Wind eilig hinauftreiben.
Er empfand keine Freiheit - sie war nicht wichtig für ihn. Er wollte nur genauso fliegen können wie der selbstgemachte Drachen. "Und ich steige doch höher als du!" Das Habichtauge starrte in leblosem Triumph.

Dann schlug der Wind um und trieb die Windvögel in rasendem Sturzflug zur Erde hinunter. Ohnmächtig schrie der Gekaufte um Hilfe. Er verfluchte die Lerche und ihr Geschwätz, er beschimpfte den Jungen, der seine Leine losgelassen hatte.
Der Drachen mit dem Grasbüscheln stürzte stumm dem Stoppelfeld entgegen. Er hatte den Traum seines Lebens erfüllt. Was jetzt noch geschah, war ihm gleichgültig.
Die Lerche begleitete den Sturz der beiden Windvögel. Sie konnte nicht helfen. Der Ackerboden kam näher und wurde gefährlich groß.
Es krachte nur leicht, als die Drachen aufschlugen, doch die Stoppeln rissen lange Wunden in ihre starre Bespannung.

Die Lerche verbarg sich in ihrem Nest. Erst als am späten Vormittag die Drachen wieder im Wind standen, geflickt mit Kreuzen aus Klebeband, blickte die Lerche auf. Sie flog eilig zum weit entfernten Ende des Stoppelfeldes. Hier wagte sie, ihre Freiheit jubilierend in den sonnenklaren Himmel zu tragen.