Die Könige von Köln

Interview
N.A.

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um den goldenen Dreikönigenschrein. Eile ist geboten, um alles über den Rhein in ein geheimes Versteck zu schaffen. Doch wer kann die Gegenstände so schnell verladen? Nur ein wahrer Herkules – den Wallraf im Tagelöhner Arnold Klütsch findet. Vereint in der Liebe zu Köln riskieren sie fortan gemeinsam Kopf und Kragen, um vor den Franzosen zu retten, was ansonsten für immer verloren wäre. Dafür setzt Arnold nicht nur seine gewaltigen Körperkräfte ein, sondern auch sein großes Herz. Das hat er schon lange heimlich der Schneidermeisterstochter Walburga geschenkt, der Zukünftigen seines besten Freundes ...

(Auszug)

Kapitel 1

Kein Windhauch. Am späten Vormittag nahm die Schwüle noch zu. Stickig und heiß war es in Köln. Paulus Fletscher ging langsamer. Ehe er durchs Hahnentor schritt, nahm er den schwarzen Filzhut ab, im Mauerschatten trocknete er mit seinem Sacktuch das lederne Schweißband, dabei schnaufte er einige Male tief vor sich hin. »Wäre besser morgen gegangen. Der Termin in Müngersdorf eilt nicht. Morgen wär’s vielleicht frischer.« Er reihte sich in die Schlange der Fußgänger ein, die aus der Stadt nach Westen wollten.
»Nicht stehen bleiben.« Kein Befehl, auch keine heftige Bewegung, der Stadtsoldat in der rot-weißen Uniform ließ nur die Hand kreisen. »Wünsche einen guten Tag, Herr Advokat.«
»Gut? Wo uns der Krieg droht?«
»Draußen vielleicht. Aber nicht bei uns in Köln.«
»Wer’s immer noch glaubt …« Paulus Fletscher seufzte. »Wenigstens du hast es heute gut. Darfst im Kühlen stehen.« Er schob sich am geöffneten Schlagbaum vorbei.
»Schon recht, Herr Advokat«, rief ihm der Posten nach, »für September haben wir’s wirklich zu heiß.« Ohne sich umzudrehen, nickte Paulus Fletscher und sah auf der anderen Seite der Torzufahrt dem langen Stau entgegen. »Gütiger Himmel!«
Reisekutschen, mehr als gewöhnlich, dazwischen große Planwagen, Bauernkarren. Und die Wachposten ließen sich Zeit, prüften Passpapiere, wühlten in der Ladung und verlangten den Zoll. Wer schneller in die Stadt wollte, steckte den Rot-Weißen einige Stuber zu und musste dennoch warten. »Ist wie im Fegefeuer. Freikaufen kann sich da keiner mehr.« Der Advokat ging dicht an den Gespannen entlang, sah in die offenen Fenster der Reisewagen, lächelte den Fremden zu, kannte er ein Gesicht, so grüßte er mit einer leichten Verbeugung.
Er näherte sich einem Obstkarren. Das Zugpferd war unruhig, schabte mit dem Vorderhuf das Pflaster. Auf dem Bock lehnte der Bauer, die Kappe tief über den Augen, döste er vor sich hin. Paulus Fletscher runzelte die Stirn. Um den Mann herum schwirrten Wespen, schlimmer noch, über der hohen Lade stieg eine Wolke von den Obstkörben auf und fiel zurück, schwappte über die Seitenwände und umkreiste in zornigem Wirrwarr den Karren.
Einige der Viecher kamen gefährlich nahe. Das konnten keine Wespen sein, auch Bienen waren nicht so groß. Hornissen, glaubte er, ganz sicher. »He, Kerl!«, schimpfte der Advokat. »Wieso, verflucht, deckst du dein Obst nicht ab?«
Der Mann war noch nicht ganz wach. »Worum geht es, Herr?«
»Haben wir nicht schon Flüchtlinge genug in Köln?« Paulus Fletscher drohte aufgebracht zu den Körben hinauf. »Jetzt auch noch Hornissen. Du schleppst uns ganze Schwärme in die Stadt …« Insekten umsirrten seinen Kopf. »Weg!« Er riss den Hut ab, schlug nach den Angreiferinnen, entfachte ihre wilde Gegenwehr, er drehte sich auf dem Absatz, schlug heftiger, dabei schleuderte er einige gegen den Bauch des Zugpferdes. Gleich fuhr das Tier vor Schmerz hoch, stieg auf die Hinterhand, fiel zurück, ein Vorderhuf traf den Advokaten am Kopf, gefällt schlug er neben dem Speichenrad zu Boden. Wieder stieg der Gaul, gepeinigt, wilder noch, der hoch beladene Karren wankte.
Mit einem Sprung vom Bock rettete sich der Bauer, dann kippte der Wagen, stürzte das Pferd, und beide begruben Paulus Fletscher unter sich. Körbe fielen übereinander, auf dem Pflaster rollten Birnen und Äpfel.
»Mein Gaul!«, schrie der Bauer. »Helft, so helft doch!« Noch angeschirrt lag das Pferd auf der Seite, versuchte immer wieder, den Kopf zu heben. Männer eilten zur Unglücksstelle, halfen dem Tier.
Jetzt erst erinnerte sich der Bauer. »Wo ist der Herr?« Da sah er den Hut zwischen den Birnen, sah das Bein unter der Seitenlade, den zuckenden Fuß. »Jesses! O Jesses.« Zusammen mit einem Mann versuchte er, den Karren anzuheben. Vergeblich. Dabei zertraten sie das herumliegende Obst, waren mitten im sirrenden Schwarm. Aus Angst vor Stichen wich der Helfer einige Schritte zurück.
»Ich schaffe es nicht allein«, flehte der Bauer zu den Gaffern hinüber, »so kommt doch!«
Zwei andere Mutige wagten sich näher. Von weiter her kam ein junger Bursche gelaufen, überholte die Zögernden, war an der Unglücksstelle. Er packte nach der Seitenlade und wuchtete sie bis zur Hüfte hoch. »Zieht ihn raus!«, rief er. »Ich halt schon. Zieht ihn nur raus.«
Wespen surrten um seine krausen, dunklen Locken. Eine setzte sich auf die Wange des Burschen. Kopfschütteln. »Lass mich!« Ohne die Seitenlade loszulassen, blies er aus dem Mundwinkel nach ihr, konnte sie endlich vertreiben. Derweil zog und zerrte der Bauer den Verunglückten an den Schultern unter dem Wagen hervor. Jetzt griffen auch die beiden neuen Helfer zu. Gemeinsam schafften sie den Reglosen übers Straßenpflaster zur gegenüberliegenden Mauer.
Der Bursche spannte den breiten Rücken, hievte die Seitenlade weiter an, mit jedem Keuchen hob sich der Karren, Stück für Stück, noch ein letzter Ruck, dann kippte er zurück in die Waagerechte, stand wieder auf allen Rädern. Als wäre die Kraftanstrengung nichts, drehte sich der Bursche um und eilte zur Gruppe, die bei dem Verletzten stand. »Wie geht es ihm?« Niemand antwortete. Ein Mann kniete neben dem Reglosen, befühlte den Hals, behorchte die Brust.
»Was für ’n Glück, dass ein Arzt in der Nähe war«, flüsterte der Obstbauer dem Burschen zu. »Sieht schlecht aus für den armen Herrn.«
»Aber ich hab doch den Karren gehoben …«, sagte der Bursche, als müsste er sich verteidigen.
»Du hast alles getan.« Der Bauer fasste den Arm des Retters. »Wer bist du?«
»Arnold. Arnold Klütsch.«
»Bist ein guter Junge. Und stark …«
Ohne große Eile näherten sich zwei der Stadtsoldaten. Kurz besahen sie den Verletzten, der ältere von beiden beugte sich näher über das zerquetschte Gesicht. »Das ist der Advokat Fletscher. Hab doch gerade noch mit ihm gesprochen.« Er tippte dem Arzt auf die Schulter, der sah hoch und schüttelte den Kopf. Der andere Posten wandte sich an die Umstehenden. »Was ist passiert?«
Ein Unglück, alle konnten es bezeugen, redeten gleichzeitig.
Arnold Klütsch trat näher, starrte auf den Toten. »Unser Nachbar.« Er schluckte, wischte die Tränen aus den Augen. »Der Vater von meinem Freund.«
»Was sagst du? Du kennst den Advokaten?« Der ältere Stadtsoldat fasste ihn am Arm. »Dann weißt du auch, wo er wohnt. Du bleibst hier!« Er gab seinem Kollegen einen Wink. »Schick die Leute weiter. Jeder Auflauf so dicht vorm Tor ist untersagt. Und sorg dafür, dass der Bauer mit seinem Obstkarren verschwindet!« Er wandte sich an den Arzt. »Ist da nichts mehr zu machen? Ist der Advokat wirklich tot?«
»Schau doch hin. Eine Trage muss her.«
»So ein Jammer.« Der Rot-Weiße betastete die Rocktaschen des Toten und fand den Passierschein. »Ich wusste es. Und das bei dieser Hitze.« Er bettelte fast: »Auch nicht ein kleiner Funken Leben mehr?«
Der Arzt sah ihn prüfend an. »Stimmt etwas nicht?«
Mit dem Finger tippte der Posten auf das Papier. »Der Schein gilt für den Advokat Fletscher, für den lebendigen. Die Leiche darf damit nicht in die Stadt. Dafür muss ein neuer Passierschein ausgestellt werden. Und das dauert, und bei der Hitze sowieso noch länger. Können wir es nicht …?« Der Stadtsoldat schob Arnold Klütsch etwas zur Seite, ehe er sich zum Ohr des Mediziners reckte und flüsterte, bis der Arzt die Schultern hob. »Mir soll’s recht sein.«
Erleichtert seufzte der Posten. »Also dann. Schaffen wir den Verletzten in die Stadt!«
Arnold schüttelte den Kopf. »Jetzt lebt er wieder?«
»Frag nicht. Halt den Mund und hilf uns!«
Der Siebzehnjährige wischte sich die Augen. »Bis ich das begreife«, flüsterte er vor sich hin.
Wenig später wurde Advokat Fletscher auf einen leichten, zweirädrigen Karren gelegt. Da kein Zugtier vorhanden war, nahm Arnold die beiden Deichselholme unter die Achseln, und in Begleitung des Arztes zog er die Fracht an den wartenden Kutschen und Planwagen vorbei auf das Hahnentor zu. Am Schlagbaum prüfte der ältere Posten selbst die Passierscheine und winkte Karren und Begleitung weiter. Gleich übergab er den Wachdienst dem jüngeren, und noch im Schatten der dicken Mauern, doch innerhalb der Stadt, untersuchte der Arzt den Reglosen und stellte den Tod des Advokaten fest.
Der Stadtsoldat bedankte sich: »Doktor, das werd ich Euch wiedergutmachen.«
»Jeder hilft jedem.« Gemessenen Schritts entfernte sich der Mediziner.
»Und jetzt zu dir«, der Rot-Weiße wandte sich an Arnold, »wo steht das Haus von dem armen Teufel?«
»Bei uns um die Ecke. An der Großen Budengasse.«
»Da bringst du mich und den Advokat jetzt hin.« Er sah auf das blutverschmierte, zerstörte Gesicht. »Schlecht kann es so einem Studierten nicht gehen. Das gibt Wegegeld von der Familie. So verdien ich heute wenigstens etwas.«
Warum sagst du so was?, dachte Arnold und schüttelte den Kopf. Der Rot-Weiße verstand die Geste falsch und tätschelte den Arm des Jungen. »Du bekommst auch was davon ab. Wir teilen. Nur keine Angst.«
Um nicht die Fäuste zu ballen, packte Arnold fest nach beiden Deichselholmen. »Mir ist … Der Herr Paulus Fletscher war ein guter Mensch.« Er stürmte mit dem Karren über die Hahnenstraße in Richtung St. Aposteln.
Zwischen Gemüsegärten holte ihn der Rot-Weiße ein. »Langsamer, Junge, langsamer. Sonst fällt uns der Advokat noch von der Lade.« Mitfühlendes Lachen. »Nimm’s nicht so schwer. Du bist noch jung. Wer schon so oft wie ich den Tod gesehen hat, der nimmt es einfach.«
Das will ich nicht, dachte Arnold und biss sich nur auf die Unterlippe.
Neben ihm zückte der Stadtsoldat eine Stummelpfeife aus der Sacktasche seiner verschmierten weißen Hose, saugte einige Male, ohne sie anzuzünden, dann spuckte er aus. »Weißt du, Kleiner …« Er verzog die Lippen. »Nichts für ungut. Auch wenn du schon zu einem mächtigen Kerl angewachsen bist, nenn ich dich mal so. Mich darfst du Peter nennen, Stadtsoldat Peter, so kennen mich alle. Also, Kleiner, als ich im Krieg war … Also auf so einem Schlachtfeld, da gibt’s viele Tote. Da lernst du das mit den Leichen.«
»Ich will das nie lernen.«
Sie gingen an St. Aposteln vorbei, erreichten die Baumallee entlang des Neumarktes.
Grollen, fernes Donnern, lauter, heftiger.
Der Rot-Weiße fuhr zusammen, dann, wie von der Sehne geschnellt, hetzte er zur Seite auf die Häuser zu und warf sich im Eingang vom Blankenheimer Hof auf den Boden.
Wieder das bedrohliche Grollen. Jetzt erst begriff Arnold, dass sein Begleiter verschwunden war. Er wandte sich um, am westlichen Himmel hatten sich dunkle, fast schwarze Wolken aufgetürmt, dann sah er zum Hoteleingang hinüber. Dort rappelte sich Stadtsoldat Peter langsam hoch, klopfte sich den Staub vom roten Rock und rückte den schwarzen Zweispitz gerade.
Arnold stieß ein leises Lachen aus. Dieser Feigling. Er grinste ihm vergnügt entgegen. »Da kommt ein Gewitter auf uns zu. Von Aachen her.«
»Weiß ich auch«, blaffte Peter. »Weiter! Bevor es regnet, will ich die Leiche los sein.«
Um sie herum gingen die Passanten schneller, hin und wieder ein rascher Blick auf den Reglosen, im Vorbeigehen fragte einer: »Verwundeter Zivilist? Von den Franzosen?«
»Nein. Der arme Kerl ist unter einen Karren gekommen«, gab der Stadtsoldat Auskunft und saugte wieder gelassen an der kalten Stummelpfeife. »Nur keine Angst. Der Feind ist noch weit.«
»Dem Himmel sei Dank. Gott schütze unser Köln.«
In der Schildergasse hielt es Arnold nicht länger, der Satz drängte einfach hinaus. »Ihr wart nie im Krieg …« Er bemühte sich, nicht zu lachen. »Ich mein, so wie Ihr Euch grade verkrochen habt. Und dabei hat es nur gedonnert.«
Ohne den Kopf zu drehen, sah ihn Peter von der Seite an. »Du hast ein loses Maul, Kleiner. Aber ich will mal nicht so sein.« Er spuckte aus. »Sollst was von mir lernen: Also …« Der Pfeifenstiel ersetzte den Zeigefinger. »Das Erste, was ein Soldat lernen muss, ist, sich zu verstecken. Sobald es knallt oder donnert, ab hinter die Mauer oder rein in die Grube und Kopf runter … So überlebst du, Kleiner. Aber nur, wenn du schlau bist.«
»Und was ist mit den vielen Verwundeten in unsern Spitälern?« Arnold seufzte. »Das waren dann alles Dumme?«
Mit einem Schritt war Peter an seiner Seite, scharf sah er ins breitflächige Gesicht. »Du machst dich nicht lustig über mich?« Er prüfte die grauen Augen. »Oder?«
»Würde ich nie wagen.« Arnold wich dem Blick aus und ging weiter. »Ich zieh nur den armen Advokat Fletscher. Mehr nicht.«


Kapitel 2

In der Schildergasse rückten die Häuser enger zusammen, und die Straße wurde schlechter. Gestank dünstete aus dem nur angetrockneten Modder, die Fahrspuren waren tief, immer wieder rutschten die Räder in die Furchen, und der Stadtsoldat musste den Leichenkarren von hinten anschieben. Arnold blickte sich nach dem Wetter um. Die Wolkentürme waren bedrohlich nah, ragten schon über St. Aposteln auf. Wird gut gehen, hoffte er. Wenn der Regen eher kommt, versinken wir gleich im Schmier, dann wird’s schwerer, und es stinkt noch mehr. Er sah zum Bretterpfad entlang der Hauswände. Ein Rad würde draufpassen, aber dann ist der Wagen schief, und der arme Herr Fletscher rollt runter. »Nutzt nichts«, flüsterte er und beschleunigte den Schritt. »Wird schon gut gehen.«
Erste Tropfen fielen, als das schmale Haus gleich am Anfang der Budengasse schon in Sicht war. Arnold klappte die Stützen runter und stellte den Wagen dicht an der Wand ab. So bot der Überstand des Daches etwas Schutz, falls es stärker regnete. Niemand im Haus hatte ihre Ankunft bemerkt. Arnold wischte sich den Schweiß von der Stirn, sah den Uniformierten an. Der starrte nur zurück, schließlich stopfte er die Stummelpfeife in die Sacktasche, und nach gründlichem Räuspern forderte er: »Na los, nun klopf schon!«
Arnold schüttelte den Kopf. »Ihr habt in so was mehr Erfahrung.« Seine Stimme gehorchte kaum.
Stadtsoldat Peter straffte sich. Mit beinah militärischem Schritt trat er an die Haustür und pochte mit der Faust.
»Komme«, hörten sie von drinnen, dann wurde geöffnet. Strahlende blaue Augen, dicke Zöpfe baumelten, dann erstarb das Lachen. Ursel, die sechzehnjährige Tochter des Advokaten, blickte völlig überrascht auf den Uniformierten, wischte die Hände an der Schürze und zog sich einen Schritt zurück. »Ich dachte, es wäre … Der Vater ist nicht daheim.« Sie winkte mit der Hand. »Aber die Mama. Wartet, ich hol sie aus der Küche.«
Ehe der Stadtsoldat zu Wort kam, war das Mädchen verschwunden. Er wandte sich zu Arnold: »Wie viele Kinder sind im Haus?«
»Noch die Beate, das ist die Älteste. Und Norbert, mein Freund. Der ist zwei Jahre älter als ich.«
»Drei Stück.« Kurz pfiff Peter durch die Zähne. »Das kann ja was werden.«
Eine schmale, leicht gebückte Frau kam durch den halbdunklen Flur, die Augen groß, scharfe Falten engten den Mund ein. In vorsichtigem Abstand folgten Ursel und gleich dahinter Beate.
»Ich bin Frau Klara Fletscher. Was gibt es, Herr Leutnant? Mein Mann ist …«
»Deshalb komme ich.« Der Stadtsoldat trat zurück und deutete zum Karren: »Da bringen wir ihn, den Advokat Fletscher.«
Fuß für Fuß, als gäbe es nur einen schmalen Grat, so tastete sich die Ehefrau bis zum Wagen hin. Sie sah ihren Mann, sah das zerstörte Gesicht und wimmerte.
Jetzt begriffen ihre Töchter, stürzten aus dem Haus, sie erblickten den Vater, und Ursel schrie auf, schrie und schrie. Beate weinte, zerrte am Kittel über dem Busen. Sie suchte nach Halt. Da Arnold neben ihr stand, warf sie sich an ihn, auch Ursel suchte Schutz und verbarg den Kopf an seiner Brust. Hilflos drückte, tätschelte Arnold die Schultern der beiden. Zu sagen wusste er nichts; so verzweifelt war das Unglück um ihn, dass auch ihm die Tränen über die Wangen rollten.
Der Rot-Weiße bemühte sich um Klara Fletscher. Er hielt ihre Hand in beiden Händen. »Beruhigt Euch, Frau«, sagte er immer wieder, und zwischendurch betonte er: »Das Leben geht weiter … Ich hab da Erfahrung.«
Ein junger Mann im schwarzen Studentenrock erschien in der Tür. »Was geht hier vor?«
»Norbert!«, riefen die Mädchen gleichzeitig und stürzten zu ihm hin. »Der Vater!«
Mit ärgerlichem Drehen und Rucken versuchte sich Norbert von den Armen und Fingern der Schwestern zu befreien. Vergeblich, die Mädchen hingen an ihm, und er zog sie bis zum Wagen hinter sich her. Beim Anblick des Toten wich das Blut aus dem schmalen, glatten Gesicht, die dunklen Augen verloren ihren Glanz, einen Moment lang wankte Norbert, und die Schwestern schienen die schlanke Gestalt sogar halten zu müssen. Tief atmete er, hob das Kinn und strich die schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Wer war das?« Er blickte Arnold an. »Ein Überfall? Sag schon!«
Der Freund schüttelte den Kopf. »Ein Unglück.« Stockend berichtete er. Norbert unterbrach ihn. »Dieser Bauer … Das waren sein Pferd und sein Wagen. Also hat er Schuld. Der muss für den Schaden aufkommen. Schließlich ist der Vater jetzt tot.«
»Moment, junger Herr«, mischte sich der Stadtsoldat ein. »Es gab Zeugen genug, und alle sagen, für den Unfall kann keiner was.« Er trat dicht vor Norbert hin. »Scheinst mir vernünftig zu sein, Junge.« Er sah den empörten Blick. »Verzeih, junger Herr wollt ich sagen. So schlimm es ist mit Eurem Vater, nehmt es ruhig hin.«
»Wollte nur wissen …«
»Am Tod kann keiner was ändern«, unterbrach ihn der Rot-Weiße. »Ich hab da Erfahrung. Und jetzt bringen wir den Vater ins Haus. Nein, Ihr nicht! Das machen wir.« Ein Wink für Arnold, dann setzte er hinzu: »Mal angefangen, müssen wir die Arbeit auch zu Ende bringen.«
Er hob mit Arnold die Bahre von der Ladefläche, und begleitet vom Schluchzen der Ehefrau und den Töchtern trugen sie den Leichnam des Paulus Fletscher in den Flur. Norbert ging voraus, über die Schulter rief er: »Wohin, Mutter? In die Wohnstube?«
»Da ist noch nicht geputzt«, wehrte die Witwe leise ab, »in sein Bett.«
Nachdem der Tote im Schlafraum niedergelegt war, bat der Stadtsoldat den Sohn mit auf den Flur. »Da wäre noch eine Kleinigkeit. Ich denke, sechs Stuber sind genug fürs Herbringen.«
Norbert spannte die Lippen. »Etwa für jeden?«
»Nein, nein«, beschwichtigte ihn der Rot-Weiße, und sein Finger schloss Arnold mit ein. »Zusammen.«
Nach kurzem Zögern nickte Norbert. »Ich besorg es von der Mutter. Wartet vor dem Haus!«
Beim Hinausgehen fasste der Stadtsoldat Arnold an der Schulter. »Was hab ich gesagt? Bei den Studierten lohnt sich das Arbeiten.«
Arnold antwortete nicht. Er sah zum schwarz verhangenen Himmel, kein Regen, mit den wenigen Tropfen hatte die Schwüle noch zugenommen. Norbert folgte ihnen nach draußen und händigte dem Stadtsoldaten das Wegegeld aus, der zählte zwei von den sechs Münzen ab, die er Arnold hinreichte.
»Ich nehme nichts.«
»Aber, Kleiner, das ist dein Lohn.«
»Ich hab es so gemacht. Für den armen Herrn Fletscher.«
»Hast recht. Hilfe unter Freunden und Nachbarn sollte nichts kosten.« Die Hand schnappte zu, und alle sechs Münzen verschwanden im Hosensack, mit der Stummelpfeife zwischen den Fingern kehrte sie zurück. »Bring aber wenigstens noch die Karre runter zum Rhein. Stellst sie am Markmannstor ab. Sag den Posten, sie wird morgen abgeholt. So, ich muss jetzt los …« Er wollte gehen, besann sich und schüttelte Norbert die Hand. »Mein aufrichtiges Beileid. Denke, das Leben geht weiter.«
Beide Freunde blickten ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war. Schweigen. Schließlich sagte Arnold: »Kann ich euch noch was helfen? Ich mein, irgendwas …«
Norbert schüttelte den Kopf. »War ein feiner Zug von dir vorhin, kein Geld zu nehmen.«
»Konnte ich wirklich nicht.«
»War aber trotzdem falsch.«
»Wieso? «
Norbert tätschelte kurz den Arm des Freundes. »Ist ja nicht schlimm, nur schade eben.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Ist doch egal.« Norbert rieb sich den Nasenrücken. »Aber du hättest die zwei Stuber nehmen sollen und mir jetzt zurückgeben. Das wäre gescheit gewesen. Dann hätte ich jetzt was davon.«
»So was ist mir nicht eingefallen. Bei all dem Schreck heute.« Erst nach einer Weile sah Arnold den Freund an. »Und nun? Was wird mit euch, so ohne Vater?«
»Ich bin ab jetzt der Herr im Haus. Ganz einfach. Daran werden sich alle gewöhnen müssen. Nicht nur Ursel und Beate, sondern auch die Mutter.«
»Aber du studierst doch noch.«
»Mach dir darüber keinen Gedanken. Das Examen schaffe ich leicht.« Norbert stellte den rechten Fuß aufs Karrenrad. In zwei Jahren wollte er Advokat sein und in die Fußstapfen des Vaters treten. Geld sei genug da. »Und wenn es nicht reicht, dann besorg ich schon welches. Mir fällt mehr ein, als du dir vorstellen kannst.«
»Das glaub ich«, sagte Arnold ehrlich überzeugt. »Aber was ist, wenn die Franzosen kommen?«
»Sollen sie doch. Ich hab gehört, dass sie den Städten nichts tun, wenn die sich freiwillig ergeben. Nein, ich habe keine Angst vor der Zukunft. Sollst sehen, ich hab Erfolg, werde heiraten und reich sein.«
Überrascht lachte Arnold. »Wenn das so einfach wäre. Ich mein, heiraten. Kennst du denn schon eine?«
»Aber ja. Walburga. Die Tochter vom Schneidermeister Reinhold Müller, drüben in der Salzgasse.«
Ein Stich. Mit dem Namen spürte Arnold den Schmerz bis tief in die Brust. Der Freund plauderte einfach weiter: »Du kennst sie doch bestimmt. Schöne braune Haare. Ich glaub, wenn sie den Zopf aufmacht, fallen sie bis über die Schulter. Und hier …« Er formte einen Busen vor dem Hemd. »Solche Früchte hat sie schon.«
Lass das, dachte Arnold und ballte eine Faust, red nicht so über sie.
»Da staunst du.« Norbert zupfte die Ärmel seines Rocks zu den Handgelenken. »Ja, die Walburga ist schon ein Schmuckstück. Die passt zu mir.«
Arnold zwang sich, ruhiger zu atmen. »Habt ihr euch schon …?«
»Nein. Spazieren waren wir. Da waren ihre Freundinnen dabei und du auch. Weißt du noch?«
»Ich mein, weiß sie es? Das mit der Heirat?«
»Nein. Aber das ist auch nicht so wichtig. Schau mich doch an. Wenn ich frage … Der Schneidermeister kann froh sein, wenn die Tochter so einen wie mich bekommt.«
Ich fall in ein Loch, dachte Arnold, schwarz ist es, einfach schwarz und tief.
Der Neunzehnjährige plusterte sich weiter: »Und sobald wir den Vater beerdigt haben, werde ich Walburga mal zum Tanz einladen. Man soll die Frauen langsam anlocken, verstehst du, immer so ein bisschen mehr.«
»Nein, versteh ich nicht«, murmelte Arnold.
»Wenn es mal bei dir so weit ist, frag nur mich, deinen Freund.«
Arnold zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. »Ich muss jetzt los. Muss den Karren noch runter zum Hafen bringen.« Er klappte die Holzstützen ein, griff nach den Deichselholmen. »Tut mir leid, das mit deinem armen Vater.« Er stapfte eilig davon. Die Räder holperten über Steine und Furchen.
»Bist ein guter Freund!«, hörte er Norbert ihm nachrufen. Was hab ich schon davon?, dachte Arnold. Er war der Sohn eines Tagelöhners. Zu Haus warteten noch sieben Geschwister, drei ältere Schwestern, und von den jüngeren waren zwei Mädchen und zwei Buben. Allein konnte der Vater die vielen Mäuler nicht stopfen. Für die Schule war Arnold keine Zeit geblieben, schon als Junge … und seit seine Muskeln mehr und mehr wurden, erst recht … musste auch er sich Tag für Tag eine Arbeit suchen, sonst reichte es nicht. Das Hahnentor war ein guter Standort. Bei all den Fremden und den großen Warenladungen war dort stets Bedarf nach starken Armen. »Ich will mich gar nicht beschweren«, flüsterte er. Nur der neue Schmerz in seiner Brust wollte nicht nachlassen. Walburga. Traum. Zuflucht der Gedanken. Manchmal ein Gruß, einige Worte, mehr nicht.
Walburga, sie war die schönste Heimlichkeit seines Lebens. Und jetzt wollte Norbert sie einfach wegheiraten. Immer schon war der Freund der Kluge, trug bessere Kleider, verfügte auch über mehr Geld, dafür hatte Arnold ungewöhnliche Kräfte, zusammen waren sie stets den Gleichaltrigen überlegen, und darauf war Arnold stolz. Heute aber fühlte er sich im Vergleich zu dem Studenten zu wenig und nur erbärmlich.
Vielleicht … vielleicht will sie ihn ja gar nicht. An diesem Gedanken versuchte er sich festzuhalten. Könnte ja sein.
»Platz. Gib den Weg frei!«
Arnold zog den Karren in einen Hauswinkel. Zwei schwarze Reisekutschen ohne Wappen rollten die Markmannsgasse zum Hafentor hinunter, dicht dahinter folgte ein geschlossener Planwagen. Jeden Tag werden es mehr, dachte Arnold. Die frommen Herren vom Dom sind auf der Flucht vor den Franzosen. Mit der Fliegenden Brücke über den Rhein und weg. Ich versteh’s nicht. Die Franzosen beten doch sicher auch, genau wie wir. Und fromme Herren braucht es dazu. Warum fürchten die sich? Er schüttelte den Kopf. Wenn das so weitergeht, sitzt im Dom bald keiner mehr im Beichtstuhl.
Nachdem er den Karren bei den Wachposten abgeliefert hatte, ging er nicht direkt nach Hause, er nahm den kurzen Umweg über die Salzgasse. Dort stellte er sich neben der Bäckerei in den halbdunklen Durchstieg. Hier war sein Platz. Wenn es irgend ging, kam er jeden Tag nach der Arbeit hierher. Von diesem Versteck aus konnte er unbemerkt das Schneiderhaus, vor allem die Tür, gut beobachten.
Zweimal Glockenschlagen erlaubte er sich, länger nicht. Die Zeit lief, sobald es von St. Martin schlug, danach noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Glockenton. Manchmal hatte er Glück, und Walburga erschien an der Tür, um einen Kunden zu begrüßen oder zu verabschieden. Ein Augenfest aber war es für Arnold, wenn sie draußen Tür und Fenster putzte. »Eines Tages werd ich dir dabei helfen«, flüsterte er.
Walburga, sie arbeitete beim Vater in der Werkstatt, nähte auch selbst, vor allem aber bediente sie die Kunden, suchte Stoffe mit ihnen aus, half den Damen beim Aus- und Ankleiden. Ratsherren, reiche Geschäftsleute und vornehme Adelige aus dem Domkapitel gehörten zur zufriedenen Kundschaft des Schneidermeisters Müller. Viele kamen nicht nur der Qualität wegen wieder, sondern auch weil sie sich von Walburga so freundlich umsorgt wussten.
Heute verstrich die Viertelstunde, ohne dass sich die Tür zur Werkstatt öffnete. Stattdessen setzte mit dem zweiten Glockenschlag wie auf Befehl der Regen ein. Dicke Tropfen. Arnold verließ den Beobachtungsposten und ging langsam am Haus des Schneiders vorbei. Es regnete heftiger, ganz gleich, er beschleunigte nicht den Schritt, spähte durchs Fenster. Walburga stand mit dem Rücken zu ihm und drapierte ein Kleid über eine Drahtpuppe. Nicht stehen bleiben, befahl er sich. Erst an der nächsten Straßenecke störte ihn der pladdernde Regen, und er beeilte sich. Blitze zuckten, gleich krachte der Donner, ehe er verklungen war, folgte der nächste Schlag.
Völlig durchnässt erreichte Arnold das Klostergässchen an St. Laurenz. Das Wasser platschte von den Dächern, sammelte sich zwischen den eng stehenden Häusern in großen Pfützen. Arnold versuchte sie durch Springen und Balancieren zu umgehen, trat aber schließlich doch mitten hinein.
Von der Domseite her näherte sich der Vater dem Klostergässchen, den breitkrempigen Hut tief über der Stirn. Gleichzeitig mit ihm erreichte Arnold die Haustür.
Der hagere, große Mann nahm den halb gefüllten Ledersack von den Schultern und setzte ihn auf dem Flurboden ab. »Hab gut verdient heute im Hafen. Konnte davon Wurst und Speck kaufen und hab sogar noch was übrig.« Er lachte leicht. »Mutter wird sich freuen.« Dabei nahm er den Sohn an der Schulter. »Und du? Wie war’s am Hahnentor? Gab es genug Aufträge?«
Arnold fuhr sich durch die nassen Locken. »Hab nichts verdient heute.« Er berichtete vom Unglück, erzählte auch, dass er den Lohn abgelehnt hatte. Dazu sagte der Vater nichts, sagte nur: »Ohne dich, Junge, schaffe ich es nicht. Und für Gotteslohn wird keins deiner Geschwister satt. Denk morgen daran, hörst du?«